Allein und doch nicht einsam
„Das Herz ist ein einsamer Jäger“
Alleinsein kann als Quality Time empfunden werden. Einsam sein hingegen will niemand. Dass es für eine Gesellschaft eine Gefahr bedeutet, wenn die Einsamkeit zunimmt, belegen jüngste Initiativen gegen die Einsamkeit. Mit ihr geht ein Verlust von aktiver Teilhabe und Gestaltung des Miteinanders einher. Sie entsteht aus der Diskrepanz zwischen gewünschter Verbindung und erlebter Isolation. Einsamkeit ist ein Mangel an Verbundenheit und führt zu Untätigkeit und Rückzug. Erst wenn Gefühle von Mangel, die oftmals auch von den eigenen Gedanken und Bewertungen herrühren, sich über längere Zeit hinweg wiederholt einstellen, kaum mehr zu unterbrechen oder abzulegen sind, manifestiert sich Einsamkeit. Sie ist keine objektive Gegebenheit. Ein allein lebender Mensch ist nicht automatisch einsam. Er oder sie kann Erfüllung in der selbstgewählten Lebensart finden.
Wie es so schön heißt, kommen wir allein auf die Welt und wir verlassen sie allein. Das ist eine existenzielle Herausforderung, die wir lernen können anzunehmen. Psychologisch betrachtet sind wir als Individuen abgegrenzt. Die Individuation ist eine Fähigkeit, die erst über eine Reihe gesunder Entwicklungsschritte im Zuge unserer persönlichen Reifung erlangt wird. Entwickeln wir diese Fähigkeit zur Abgrenzung nicht oder nicht ausreichend, können Störungen in den Beziehungen auftreten. Symptome wie Abhängigkeit, mangelhafte Selbstregulation und Aggressionen können die Folge sein. Allein sein zu können heißt, es auszuhalten, für sich selbst zu sein, sich anzunehmen und zu versorgen, sich emotional regulieren zu können.
Dies sind grundlegende Voraussetzungen für Ausgeglichenheit und Zufriedenheit. Wenn dies gelingt, wird Verbundenheit erst wirklich erlebbar: mit der Natur, mit einem Ort, einer Idee, mit weit entfernt lebenden Freunden, etc. Selbst wenn wir unseren Lebensweg zuweilen allein zu gehen haben, können wir aus dieser inneren Abrundung heraus erfolgreich Begleitung suchen und finden, Freund:innen, Fürsprecher:innen, Partner:innen. Wenn ich verbunden bin mit etwas, das mir wertvoll und wichtig ist, habe ich einen Bezug nach außen, der mir Fokus und Sinn schenkt, einen Adressaten, eine Richtung. Dann bewege ich mich, bin aktiv, lebendig, in Beziehung, auch wenn ich momentan allein bin.
Ich habe es also bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, wie ich Alleinsein bewerte. Gelingt es mir, das ersehnte Gegenüber, die Gruppe, der ich angehören möchte, die ideale Familie, alles was ich zu brauchen meine, das ich gerade nicht habe, ein Stück weit loszulassen, dann schaffe ich in mir Raum. In ihm entsteht Platz für die Anerkennung der Grenzen und des So-Seins aller Beteiligten. Und für das aufmerksame Wahrnehmen meiner Gefühle. Wenn ich dahin - nämlich zu mir selbst - gelange, werde ich handlungsfähig, komme ich vom passiven Erleiden ins aktive Gestalten.
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Hilfs- und Beratungsangebote für Menschen, die sich einsam fühlen: kompetenznetz-einsamkeit
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