Realität und wie wir sie erschaffen
„Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.“
Lauscht man diesen Sätzen des Schauspielers und Autors Matthias Brandt nach, könnte man meinen, die Wirklichkeit sei eine Erzählung. Erschaffen wir die Realität? Die sinnliche Wahrnehmung, so eine These der Erkenntnistheorie, liegt dem zugrunde, was wir von der Welt erkennen können. Dass sie uns nicht geschieht, sondern wir sie aktiv gestalten, hat zuletzt der Philosoph Alva Noe betont. Aber was entgeht unserer Wahrnehmung nicht alles? Die hohen und die niedrigen Frequenzen des Schallspektrums zum Beispiel. Die Dinge, die außer Sicht- und Hörweite sind, und dennoch existieren. Der Augenhintergrund. Das komplexe Zusammenspiel unserer inneren Organe. Die nächtlichen Träume, die am frühen Morgen schon verblasst sind. Die Gefühle der anderen, wenn wir ihnen nicht aufmerksam Raum geben. Die eigenen Gefühle, die wir nicht wahrhaben wollen.
Die Rechenleistung unseres Gehirns bewältigt Unmengen von Sinnesdaten, die wiir entweder situativ nicht brauchen, oder die uns am Funktionieren hindern würden. So „wissen“ wir nur so viel vom Ganzen, wie wir gerade halbwegs verarbeiten können. Nur ein Bruchteil der Wirklichkeit kann sinnvoll erfasst werden. „Das Trennende ist das Bewusstsein.“ Zudem werden unsere Wahrnehmungen der Welt, die empirischen Anschauungen, Sinnesempfindungen und Erfahrungen, so sie uns zugänglich werden, gefiltert von den Erwartungen dessen, was geschehen könnte. Jenseits dieser Filter ist kaum ein reines Erkennen möglich.
Die „reinen Anschauungen“ Kants, Raum und Zeit, bilden die Bedingungen der Wahrnehmung. Wir erleben mit anderen Worten immer das, was schon in uns angelegt ist. Vertreten wir die Position eines radikalen Subjektivismus, müssen wir zugeben, dass das Objektive zwar denkbar ist, es jedoch nie erfasst wird. Der „Blick von Nirgendwo“ ist uns nicht gegeben, bleibt bloßes Gedankenexperiment.
Meiner Ansicht nach, geht die Welt weit über das hinaus, was wir zu denken in der Lage sind.
Nun ist die Frage, ist das eine gute oder schlechte Nachricht? Was bedeutet es für unser praktisches Leben im Hier und Jetzt, dass wir uns damit abfinden müssen, dass unsere eigene Realität nicht notwendig mit der eines anderen Menschen übereinstimmen muss? Lässt es uns allein und voneinander getrennt wie Schiffbrüchige in einem Ozean der Realitäten vor uns hin treiben ohne Aussicht auf tiefes Verständnis oder gar Harmonie mit jemand anderem? Oder eröffnet es uns gerade die Chance auf ein neugierig fragendes Anteilnehmen an den Welt- und Realitätsversionen der Anderen? In dieser Entscheidung steckt viel Potenzial zur eigenen Weiterentwicklung und für ein respektvolles Miteinander, in dem wir die Vielfalt und Andersartigkeit als Bereicherung willkommen heißen.
Katja F.M. Wolf
Literatur:
Matthias Brandt, „Raumpatrouille“, Köln 2016
Alva Noë, „Action in Perception“, Cambridge MIT 2004
Rüdiger Safranski, „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“ Frankfurt/Main 1993, S.9
Immanuel Kant, „Kritik der reinen Vernunft“, Frankfurt/M. 1974, Bd.1, I.2. §24 S.148 f.
Thomas Nagel,“The View From Nowhere“, Oxford 1986, VI.1. S.90
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