Streit-Zeit
Stille.
Schweigen voller Worte.
Ungesagte und ungeliebte Worte.
Wir sitzen am Küchentisch, jeder von uns eine Tasse Tee vor sich und jede Menge Emotionen in uns. Hinter uns liegen viele Worte. Laute Worte. Unschöne, schmerzhafte, verletzende Worte.
Wieder einmal sitzen wir am Küchentisch, gemeinsam im Streit verkeilt, im Herzen einsam. Wieder einmal konnten wir mit unseren, ach so wichtigen Grenzen nicht umgehen. Grenzen, die wir brauchen, die wir fühlen, uns aber nicht trauen, sie einander einzugestehen. Sie uns zu schenken als Respekt uns selbst gegenüber. Unser beider Hochsensibilität, unsere Feinfühligkeit endet an der Hilflosigkeit, gut für uns selbst zu sorgen. ‘Das kann ich doch nicht tun, nicht sagen. Dann verletze ich ihn doch. Dann liebt sie mich nicht mehr.’
Ich habe die Nase voll von all dieser gemeinsamen Hilf- und Sprachlosigkeit. Ich grabe in meinem Rucksack nach einer Visitenkarte, die mir Lena letztens gab. Sie ist auch hochsensibel, aber ihr geht es viel besser damit. Ich fragte sie, wie sie das macht und sie gab mir daraufhin die Visitenkarte und meinte: „Geh hin! Das tut dir und euch gut.“
Nun sitze ich bei Frau Meier. Oder heißt sie Müller? Ich bin so aufgeregt, so unsicher, dass ich mir nichts merken kann. Ja, wir sind beide hochsensibel. Ja, das ist wunderbar ..., bis auf die häufigen Streits.
Worum geht es? Zu viel von diesem, zu viel von jenem. Kein Rückzugsraum. Nehmen Sie sich ihn denn? Na ja, manchmal. Hmm, eigentlich nicht wirklich. Und dann scheppert’s irgendwann. Wie streiten Sie sich denn? Was heißt „wie“? Nun, wie gestalten Sie ihre Streits? Setzen Sie sich an den Tisch oder brüllen Sie sich spontan im Hausflur an? Oder sagt nur der eine etwas und der andere schweigt?
Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wir könnten unseren Streit „gestalten“? Aber ja, natürlich. Wissen Sie, Streits entstehen im Affekt, also im Gefühl und dort immer in explosiv geladenen Momenten. Es ist wie eine Spontan-Sprengung. Ja, genauso fühle ich mich immer. Wenn Sie Ihre Streits „gestalten“, werden wunderliche Dinge passieren. Ich mache Ihnen zum Einstieg folgenden Vorschlag: Halten Sie am Anfang eines Streits kurz inne und vereinbaren eine „Streit-Zeit“. Fünf oder zehn Minuten. Danach stoppen Sie, egal wo Sie inhaltlich gerade stehen und machen eine Pause. Eine Stunde oder ein Tag. Vereinbaren Sie dies gemeinsam vorher. Verdattert geh ich nach Hause, verzweifelt genug, diese verrückte Idee auszuprobieren.
Nun, was hat sich getan? Ich sitze wieder bei Frau Müller-Meier und berichte erstaunt und freudig erregt, dass wir miteinander reden. Die Pausen verringern die Explosionsgefahr und der kurze Zeitraum der „Streit-Zeit“ zwingt uns, auf den Punkt zu kommen. Es ist nach wie vor aufregend, aber die wortgeschwängerte Stille am Küchentisch hat sich verzogen.
Cordula Roemer, Expertin für Hochsensibilität & Hochbegabung
Bild zur Meldung: Adam auf Pixabay