Recht haben oder glücklich sein
Der klassische Laborversuch im Chemieunterricht besagt, dass zwei hochentzündliche Stoffe – freigesetzt in einem Reagenzglas – zur Explosion führen, sich unkontrolliert und verletzend Luft verschaffen. So empfinde ich auf meiner persönlichen Ebene einen Streit. Es ist etwas, was meinen inneren Frieden stört und droht, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
An dieser Stelle merke ich, wie sehr ich in der indischen Kultur verwurzelt bin, in der der Streit kein Kulturgut darstellt. Wie es gelingen mag das verbindende Element zu finden in einer Situation möglicher, krasser Gegensätze, Ebenen und Meinungen, möchte ich an einem Beitrag des legendären Journalisten und Publizisten Peter Scholl-Latour veranschaulichen, der auf wunderbare Weise die indische Kultur und deren Umgang mit Konflikten in Bilder zu erklären vermochte.
Morgens acht Uhr, Rushhours am größten Kreisverkehr in Delhi - dem India Gate. Bei dem Gedanken allein muss ich schon lachen, denn ich weiß sehr genau, was sich da abspielt: Scooter, Autos, Fahrräder, Mopeds, Kutschen, geführte Lastenesel und Busse scheinen sich aus allen Richtungen auf den Kreisverkehr zu stürzen, ohne auch nur im geringsten Regeln zu beachten. Mittendrin völlig unbeeindruckt, freilaufende, wiederkäuende Tiere, die mit einem Selbstverständnis dem Treiben keinerlei Beachtung schenken. Nun nähert sich aus einem Seitenarm einer Zubringerstraße mit viel Tamtam ein Hochzeitszug. Hochzeiten in Indien sind gekrönt durch Opulenz, Farbenpracht, ausgelassener Stimmung, Musik und Menschenmassen.
Der Konflikt und damit verbundene Streit um „Wer ist im Recht und wer darf seine Interessen durchsetzen“ zwischen den Menschen auf dem Weg zu ihrer Arbeit und dem ausgelassenen Hochzeitszug erscheint unwiederbringlich gesetzt.
Oh nein, liebe Leser*innen! Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung!
Das alltägliche Morgenkonzert aus Hupen, laufenden Motoren und Geschrei verstummt abrupt. Nachdem dem Hochzeitszug auf wundersame Weise Platz gemacht wurde, verlassen alle zur Arbeit strömenden Menschen ihre Gefährte und beginnen zu der Musik des farbenprächtigen Zuges zu tanzen, zu klatschen und ihm zu folgen. Der wachsende Zug aus Hochzeitsgästen und arbeitender Gesellschaft umrundet gemeinsam das India Gate. Und während der Hochzeitszug allmählich im Morgennebel der aufgehenden Sonne in einem anderen Seitenarm des Kreisels verschwindet, setzt die arbeitende Gesellschaft unter lautem - nun aber fröhlichem - Gehupe und Geschrei ihre Fahrt fort.
Suchen wir nach einer Antwort, wie wir einem Streitgespräch begegnen - zu dem bekanntlich immer zwei gehören – so meine ich eine Lösung in der Geschichte zu erkennen. Begegnen wir uns stets wohlwollend, nähren wir in uns das Bedürfnis nach Harmonie. Und was gibt es Schöneres, als am Ende eines hitzigen Diskurses gemeinsam zu lachen, sich zuzuzwinkern und dem anderen einen schönen Tag zu wünschen.
Bild zur Meldung: Vatsal Bhatt auf Pixabay