Lebenswende
Mir schwirrt der Kopf. Alles im Körper vibriert und ich fühle mich wie Espenlaub – zittrig allein schon durch den kleinsten Windhauch. Mein Denken hat sich auf die rudimentärsten Funktionen zurückgezogen: Welche Termine stehen heute an? Habe ich alles dafür? Was muss noch organisiert oder erledigt werden? Warum habe ich solche Schweißausbrüche? Wechseljahre? Viel zu früh!
Was ist passiert? Och, eigentlich nichts. Es war ein ganz normaler Arbeitstag. Mit Meetings, zwei, drei Mitarbeiter-Gesprächen, jeder Menge Mails, einigen relevanten Entscheidungen, da ja nun das Weihnachtsgeschäft und somit so manche zusätzlichen Aufgaben anstehen. Das Shooting wurde für zwei Wochen verschoben, was mir eine momentane Erleichterung mit Aussicht auf noch mehr Stress in zwei Wochen gibt. Aber bei meinem Pensum lebe ich nur im Jetzt. Für alles andere gibt es keine Zeit.
Und eigentlich geht es mir gerade auch nicht wirklich viel anders als gestern. Oder als vor einer Woche. Oder vor ein paar Monaten. Also brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Nur diese Schweißausbrüche irritieren mich ein wenig. Aber wozu gibt es Deo. Und ich bin vom Fach, kenne also die wirklich besten. Damit wäre das Problem – vorerst – gelöst.
„Du siehst schlecht aus, meine Liebste!“ Steffen stellt mir meinen Salatteller und ein Glas stilles Wasser auf den Couchtisch. Er schaut mir besorgt in die Augen und setzt sich neben mich. Ich habe es dann doch nicht mehr an den Esstisch geschafft, suche mein Heil in der Waagerechten und knabbere lustlos auf einer Möhre herum. Ein stechender Schmerz im Oberkörper nimmt mir für einen Moment die Luft und ich sinke in mein geliebtes Herzkissen.
Steffen sitzt neben mir auf einem Stuhl und liest. Ich muss wohl beim Essen eingeschlafen sein. Aber träume ich? Das hier ist nicht unser Sofa, nicht unser Wohnzimmer, nicht unser Zuhause. Ich schaue mich um und bemerke dabei, dass an meinem Arm ein Tropf hängt. Steffen sieht, dass ich aufgewacht bin, legt sein Buch zur Seite und rückt mit seinem unbequem wirkenden Stuhl an meine Seite. - „Was ist passiert? Wo bin ich?“ - „Im Krankenhaus, mein Schatz. So wie es aussieht, hattest du wohl einen Herzinfarkt.“
„Einen was?“ krächze ich, weil meine Stimme dann komischerweise doch nicht so kann, wie sie will. „Das geht doch gar nicht! Ich bin doch erst neununddreißig!“ - „Das geht leider immer, Liebes. Du weißt, es ist eher eine Frage deines Lebensstils und der Ernährung“ Ja, ich weiß. Meine Ernährung habe ich schon vor vielen Jahren auf gesund umgestellt. Das mit dem Lebensstil mag ich aber nicht hören. Frustriert schaue ich aus dem Fenster, hinein in eine bunt verfärbte Akazie.
„Weißt du, wenn ich da bin, werde ich dich auch das nächste Mal ins Krankenhaus bringen. Wenn die Zeit reicht, können die Ärzte dich wieder versorgen. Aber soll das dein Leben sein? Soll dieses Damoklesschwert über unser beider Leben schweben? Bitte, Anne.“ Und damit umschließt Steffen flehend meine Hand mit seinen beiden warmen Händen, „bitte übernimm endlich die Verantwortung für dein Leben, für deine Gesundheit. Ich bin sehr gerne für dich da. Aber das kann ich einfach nicht übernehmen. Das ist nur deine Aufgabe.“
Ich blicke Steffen in die Augen, wissend, dass er Recht hat und spüre in mir die Angst vor dem unbekannten Weg, hin zu meiner Eigenverantwortung.
Autorin, Coach, Expertin f. Hochsensibilität & Hochbegabung
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