Der Präventator
Früher Morgen, ich öffne die Tür einen Spalt. Draußen steht ein adretter Herr, in Jeans, gebügeltem Hemd und Sakko, schmale Aktentasche unter den Arm geklemmt. Versicherung? Kaum blinzle ich durch die Türöffnung, beginnt er auch schon eifrig, seine Lippen zu bewegen. Zu hören ist nichts. Nur das Rauschen in meinen Ohren. Ich nicke dem Herrn wohlwollend zu, etwas irritiert, warum er denn ohne Ton spricht. Erneut bewegt er seine Lippen, hält dann aber inne, inspiziert lächelnd mein Gesicht und tippt sich anschließen an sein linkes Ohr. Ach so, der Lärmschutz!
Ich bitte den adretten Herrn hinein, bugsiere ihn in der Küche. „Auch einen Kaffee?“ frage ich ihn. Er nickt und legt los. „Wissen Sie, ich möchte Ihnen unsere sensationelle Weltneuheit vorstellen ...“ Doch Vertreter! „..., die Ihnen das Leben zu 100% erleichtern wird!“ Ich hole Luft, komme aber nicht zu Wort.
„Haben Sie manchmal Kummer?“
Ich nicke.
„Kämpfen Sie manchmal mit Sinn- oder Hoffnungslosigkeit?“
Ich rolle die Augen.
„Sind Sie manchmal erschöpft, frustriert oder entmutigt?“
„Ich verstehe nicht.“
„Das ändert sich gleich.“ Damit zückt er ein schmales Gerät aus seiner Aktentasche, drückt ein paar Knöpfe, woraufhin erschreckende Signaltöne erschallen. „Dies ist unser Präventator! Er misst all ihre kommenden gesundheitlichen Probleme. Dank unseres Präventators können Sie nun unbesorgt Ihr Leben genießen, denn unser Präventator warnt Sie rechtzeitig, falls Sie aus dem Gleichgewicht geraten sollten.“ Damit legt er mir das schmale Gerät in edlem schwarz-gold Design direkt unter die Nase.
„Es misst, dass es mir schlecht geht?“
„Nein. Es misst, warum und wie es Ihnen schlecht gehen könnte, wenn Sie nicht dieses oder jenes zeitnah ändern.“
Ich glotze das Teil verständnislos an. Mein Gegenüber strahlt mich an und verkündet: „Allerneueste Technik. Das hat es so noch nie gegeben. Bislang mussten Sie zum Arzt, Heilpraktiker, Therapeut usw.“
Ich nicke wieder, denn ich bin bei allen Stammkundin. „Damit ist ab sofort Schluss! Jetzt müssen Sie nicht mehr, wenn's schon fast zu spät ist, zum Spezialisten. Jetzt warnt Sie unser Präventator zuverlässig vorm kritischen Punkt. Und dann wissen Sie aber auch, warum und zu welchem Spezialisten Sie gehen müssen! Ist das nicht wunderbar?!“
“Aber wie soll das Teil denn was messen, was ich noch gar nicht habe?” frage ich verständnislos. Ich schwanke innerlich zwischen Faszination und Vertreter-Abscheu.
“Eine sehr gute Frage!” Jetzt wirft sich Herr Adrett nochmal so richtig ins Zeug: “Also, lange bevor Sie merken, dass es Ihnen nicht so gut geht, geht es Ihnen schon nicht mehr so gut. Da hat sich nach und nach Stress in Ihnen angestaut und schüttet laufend Unmengen von Cortisol aus. Das ungesunde Frust-Essen killt Ihre guten Bakterien im Darm oder die dem Miesmuffel fehlende Bewegung lässt Muskeln und Gewebe verkleben. Davon spüren Sie erst einmal noch nichts. Alles scheint okay. Aber unser Präventator, der misst das alles! Er ist in der Lage, die optimale Schwingungsfrequenz Ihres Organismus und somit auch die Abweichungen davon zu messen. Und so kann er Sie dann auch warnen, wenn diese Faktoren sich Richtung orangerot bewegen. Et violá - er misst, was Sie noch gar nicht spüren.”
Ich fühle mich ertappt. Gerade so, als wäre ich durchsichtig. Sehen andere auch, was Herr Adrett in mir sieht? Dann sollte ich vielleicht doch …?
Nicht, dass ich alles verstanden hätte, aber es platzt einfach aus mir heraus: „Können Sie mir den da lassen?“
Autorin u. Expertin f. Hochsensibilität & Hochbegabung
Bild zur Meldung: Luca Cagnasso auf Pixabay