Mit leichtem Sinn auf steinigem Weg
Heute bin ich zu meiner ersten Bergwanderung in den Pyrenäen aufgebrochen: Hier beginnt der Camino Francés, der “klassische” Jakobsweg. Das Wetter scheint zu halten und zum Glück ist es nicht zu warm. Die Vögel zwitschern, die Sonne steht noch tief, es riecht nach Frühling und Bauernhöfen. Im Anblick der Silhouette von Hügeln und Bergen vollbringe ich eine kurze, steile Wanderung bergauf. Am zweiten Morgen starte ich früh und überwinde in tiefem Nebel den Gipfel. Die Wahrnehmung schärft sich mit der Zeit, das Gehen fällt mir leicht. Ich verlangsame mein Tempo, um nicht andere Pilger zu überholen. Die Stille und Tiefe von meinem vorigen, portugiesischen Jakobsweg wollen sich nicht einstellen, denn trubelig ist es hier!
Die Bodenbeschaffenheit kann felsig, steinig, steil und hart sein - dabei spüre ich nur selten einen Anflug von Missbilligung. Oft allerdings, wenn Menschen laut sprechen, ist es mir anfangs fast ein Graus. Und ich beeile mich dann zu überholen und wieder etwas Stille zu finden. Der Wind, die Vögel, die Kühle, die Farben, die anmutige Landschaft... Heute haben wir wieder einen kleinen Pass überquert. Cirauqui, auf einem Berg liegend, ist das schönste Dorf bisher, sein Anblick offenbart sich schon von weitem.
"Gehen ist des Menschen beste Medizin."
(Hippokrates)
Es fällt mir leicht, den Weg zu nehmen, so wie er ist. Ob Asphalt, bergauf, windig, kalt, Regentropfen, was auch immer. Nun möchte ich auch noch die Menschen so nehmen, wie sie sind! Dabei lasse ich mir den Wind um die Nase wehen und genieße, was ich sehe. Felder, Mohn und im Hintergrund langgestreckte Berge. Die Wege bestehen aus Stein, Schotter oder Asphalt und ich habe Blasen an den Füßen, die ich aber gut verarztet habe. Mit leichtem Humpeln geht es gut vorwärts. Ich brauche ja nicht schnell zu gehen, bin ganz friedlich und Vieles stört mich kaum noch.
Die einzelnen Orte und Begegnungen verschwimmen nach einiger Zeit in meinem Kopf. Das Einzige, das bleibt, ist das stetige Gehen und die kaum veränderte Landschaft aus Feldern, Hügeln und Wolken mit blauen Lücken darin. Als ich heute starte, sind die Schatten noch lang. Die Sonne scheint und der Himmel ist dunkel bewölkt, Vögel singen ihr Morgenlied. Mein Schritt geht leicht. Es ist kühl. Die Landschaft ist lieblich und sanft geschwungen. Auf einmal erfüllt mich eine tiefe Liebe und Berührtheit, die Sonne in meinem Gesicht, mein Herz wird weit, mein Atem geht ruhig. Ich empfinde eine Weite, die sonst selten spürbar ist. Da kommt mir der Gedanke, dass das tiefe Lachen von gestern Abend in der Herberge mich auf diesen Zustand vorbereitet hat - so wie bei den Indigenen der Clown auftritt, bevor der Schamane erscheint...
Dann habe ich wohl ein shin splints (Schienbeinkantensyndrom). Das ist sehr schmerzhaft und ich kann nicht mehr laufen. Nun humple ich an der Landstraße entlang und in meinem Kopf ist es leer. Auch der Weg an der stark befahrenen Straße ist außerhalb der Komfortzone. Es ist sehr kalt und regnet. Doch niemand hier lässt sich davon die gute Laune verderben - und ich auch nicht. In der einfachsten Herberge bisher, in Redecilla, verbringe ich den Abend mit einer Baskin und einer Frau aus Taiwan. Ohne gemeinsame Sprache malen und schreiben wir auf die Papiertischdecke und trinken Rotwein. Am nächsten Morgen zeigt mir die Baskin ihre Musik und wir tanzen dazu...
Das schöne Burgos ist die letzte Station. In allerlei Strapazen, körperlichen Beschwerden und Wetter-Unbillen konnte ich gelassen bleiben und die Tage so nehmen, wie sie sich mir offenbarten. Vielleicht ist das doch der Sinn des Caminos, dass es keine ekstatische, sondern eine eher in einem guten Sinn gewöhnliche Erfahrung ist. Ich fühle mich, obwohl ich wenig laufen kann, harmonisch und gelassen. In Bilbao schließe ich zwei Tage später, so wie ich es mir gewünscht hatte, am Meer meine Reise ab. Die Sonne ist noch mal herausgekommen und es wird wärmer. Ich bin glücklich.
Bild zur Meldung: Lydia Poppe