Zum 80sten Geburtstag an meinen Vater
Ganz oben, auf den letzten Stufen der Lebensleiter angekommen, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen, anzuerkennen was wichtig und wesentlich war. Spätestens hier darf man sich bewusst darüber werden, was von einem bleibt, welches ideelle Erbe, welche Werte man hinterlassen möchte. Der 80. Geburtstag ist auch für die Angehörigen eine gute Gelegenheit, den geliebten Menschen zu würdigen. - So habe ich diese Zeilen für meinen Vater verfasst.
Zum 80sten Geburtstag
Lieber Vater,
80 Jahre, ein erfülltes Leben mit vielen Variablen und einigen Konstanten.
Laut Wikipedia bezeichnet eine Variable eine Leerstelle in einem logischen oder mathematischen Ausdruck.[1] Der Begriff leitet sich vom lateinischen Adjektiv variabilis (veränderlich) ab. Gleichwertig werden auch die Begriffe Platzhalter oder Veränderliche benutzt. In unserem Fall ist eine Variable die Anzahl der Lebensjahre. Der Gegenpunkt zur Variablen ist die Konstante.
Die Konstante bist Du, lieber Vater, der sein Leben seit 80 Jahren in dieser Welt meistert.Und ich möchte noch eine Konstante mit ins Spiel bringen. Die 28. Wie bitte? Was hat das zu bedeuten? Ja, im Alter von 28 ist eine weitere Konstante in Dein Leben getreten, nämlich ich als Deine erstgeborene Tochter. Du bist mir zeitlebens 28 Jahre (genau: 28 Jahre und 7 Monate und einen Tag) voraus. Ich folge Dir in immerwährendem Abstand dieser Konstante in Deinem Lebenskreis.
Das heißt auch, Du hast 28 Jahre Deines Lebens vorher schon Erfahrungen sammeln können, die Dich in Deinen Entscheidungen beeinflusst haben. Diese sind für Dich eine Konstante, für mich aber eine große Unbekannte (= Variable), da ich sie ja nicht miterlebt habe.
Und gleichzeitig ist die 28 auch eine Variable - nämlich gefühlt. Als ich geboren wurde, war 28 Jahre eine unvorstellbare Dimension. Du warst für mich der Allergrößte und neben meiner Mutter die wichtigste Bezugsperson. Aber mit dem Gefühl ist das halt etwas tricky. Denn potenziell gefühlt, schrumpft mit zunehmendem Alter die Distanz von der 28.
Du bist mir numerisch gesehen weiterhin 28 Jahre voraus, aber in meiner heutigen Dimension, meinem heutigen Erfahrungsschatz, kann ich mich schon eher in die 80 hineinfühlen, als es einer Fünf- oder Zehnjährigen möglich gewesen wäre.
Das heißt, der Blickwinkel unserer Begegnungen ist eine Variable = eine veränderbare Größe, mit der wir spielen können. Mit der wir entscheiden und unterscheiden können, wollen wir es mal leichter haben, mal lebhafter, mal deutlicher, mal intensiver oder aber auch mal leiser…
Eine große Konstante in Deinem Leben ist auf jeden Fall Dein großes Herz, für das ich Dich bewundere und schätze. Und so möchte ich auch gerne meine numerischen Ausführungen schließen, mit dem Wunsch, unsere Blickwinkel weiterhin zu variieren und das Leben mit der einen oder anderen Konstante zu bereichern.
In Liebe, Deine Miriam
Bild zur Meldung: © Kira auf der Heide auf Unsplash