Mein Caminho
Ich habe spontan einen Flug nach Porto gebucht um von dort den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu gehen. Nicht ohne aufgeregt zu sein und mit leichter Angst vor dem Alleinsein, doch dem wollte ich mich stellen. Ich wollte mit der zweiwöchigen Wanderung einen Umbruch in meinem Leben verarbeiten und einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Dabei Gedanken und Glaubenssätze überprüfen und herausfinden, ob ich mich dem Leben hingeben kann, so wie es ist.
Auf meiner ersten Wanderung am Meer entlang fühle ich mich sehr gut. Ich dachte nicht nach, ließ los und fühlte mich wie eine geknickte Pflanze, die sich ganz natürlich wieder aufrichtet. Ich hatte mich vormals oft gestreckt, um eine andere zu sein, als ich bin. Wenn ich jetzt innerlich ganz still wurde, fiel dies von mir ab und ich war einfach da, brauchte nichts zu tun, mich nicht anzustrengen, nirgendwo anders zu sein, als ich war. Einfach sanft atmen, wenn mir auffiel, dass meine Gedanken kreisen.
Das Gehen am Meer ist so atemberaubend und hat mir anfangs gleich das Wasser in die Augen getrieben. Der Atlantik ist so machtvoll, weit und tief und berührt meine Sehnsucht nach Transzendenz, nach kosmischer Verbundenheit. Mein Herz wurde über Stunden weit und still.
Dann sitze ich am Fluss Mino und lasse ihn auf mich wirken. Ein milder Wind berührt meine Arme und mein Gesicht. Ich spüre, wie die Zeit langsam verrinnt und alles sich ständig erneuert. Lange sitze ich am Fluss. Gedanken steigen wieder auf und ab, Gefühle stellen sich ein. Mir kommt das Bild von einem Haus mit vielen Zimmern, jedes Zimmer ein Gefühl. Manchmal bin ich hier, manchmal dort, im Wohnzimmer oder Dachgeschoss.
Nach einer Woche und 140 leicht federnden Kilometern mache ich einen Tag Pause. Auf einmal kommt die Einsamkeit. Ich bin müde, gelangweilt, frustriert und denke darüber nach, wie ich mit meiner aufgeplatzten Blase am großen Zeh umgehen werde. Irgendwo wird gelacht, andere sitzen in der Herberge zusammen, ich verspüre keinen Impuls mich dazu zu setzen. Destruktive Gedanken kommen auf. Doch ist das wirklich wahr, was ich mir da über mich erzähle?
Dann höre ich von einer Mitpilgerin: Den ersten Teil der Etappe achtest du vor allem auf deinen Körper, dass alles läuft wie geschmiert und das bindet die Aufmerksamkeit. Im zweiten Teil kommen die Gedanken und du kannst lernen mit ihnen umzugehen und sie ziehen zu lassen. Und dann kannst du dich im dritten Teil den spirituellen Erfahrungen widmen. Ich will nun nach dem frustrierenden Tag ab sofort meine Gedanken über mich selbst beobachten und sie ziehen lassen.
Mehr und mehr lasse ich mich berühren. Nehme nicht den Asphaltweg, sondern den Sandweg daneben, auf dem ich zwar langsamer voran komme, aber das Gehen mehr genieße. Dann tauche ich in den Anblick des Flusses ein, höre den Vögeln zu und wie es um mich summt und brummt, spüre den Schweiß auf meiner Haut und meinen ruhigen Atem.
Manchmal nach einem halben Tag die erste Bank, ich spüre meine Füße und bin fernab irgendwelcher Cafés, geschweige denn Dörfer. Die Gedanken fließen träge dahin. Immer wieder erinnere ich mich daran, sie zu beobachten und schon ertappe ich mich und lasse sie wieder ziehen. Ich gehe weiter, wandere an einem Bach entlang durch einen schattigen Wald und will immer weniger: kein Tempo, kein Café, kein Ziel.
Dann eine Unachtsamkeit und ich lege mich lang mit blutiger Nase und Lippe, krass und plötzlich. Zudem bin ich einige Tage ziemlich erkältet. Der Caminho ist echt Arbeit. Doch an anderen Tagen ist es nicht so schwer und die Landschaft ist wunderschön.
Einige Tage wandere ich mit Maz aus Australien. Wir gehen den ganzen Tag durch den galizischen Regen. Und auf einmal macht es - Klick - und ich fühle tiefe Liebe zu ihr und zu den anderen Pilgern, als wir weitgehend in Stille viele Stunden durch den Wald gehen, bergauf und bergab über Stock und Stein. Mein Herz geht auf auch für mich selbst und für alles, was ich jetzt wahrnehme.
Ich empfinde heute meinen Körper gekräftigt und fitter als vorher. Fühle mich irgendwie innerlich durchgewaschen, gereinigt, aufgeräumter. Kompetenter, eigenständiger als vorher. Stiller.
Auch gemeinsam mit anderen unterwegs zu sein, in dem Wissen, dass alle in Santiago ankommen wollen, mit Einsichten und guten Erfahrungen, hat mir Kraft gegeben und ein Gefühl von Verbundenheit mit einer Art großer Familie.
Jetzt liege ich hier am Ende des Weges am Meer und entspanne mich, lasse es nachwirken. Es war ein sehr intensives Erlebnis. Ich gehe etwas weiser nach Hause, als ich gekommen bin, habe mehr gefunden, als ich gesucht habe. Diese langen Wanderungen sind noch in mir, diese Stunden des Schweigens und in der Natur zu gehen, verbunden mit Luft und Erde, allen Geräuschen und Gerüchen. Ich fühle mich eingebunden in die Natur, geöffnet für ihre Schönheit. Und spüre noch in mir das Meer, die Sonne, das Rauschen, den Wind, die Vögel, die Blumen, die Erde und den Regen. Eins.
Siehe auch: Urlaub. Erfüllt unterwegs sein und Unterwegs zu den Anderen
Bild zur Meldung: © Lydia Poppe, Portugal 2022