Vergänglichkeit als Lehrmeister
Das Leben ist ein ständiger Auf- und Abbau. Dies geschieht auch in jeder Sekunde in unseren Körperzellen. Manche Krankheiten können konstruktive Krisen sein, aus denen wir gestärkt hervorgehen. Andere wiederum bezeichnen wir als degenerative Prozesse, also rückbildende, abbauende Erscheinungen mit nachhaltigen Folgen. Solche Verfallserscheinungen weisen uns auf unsere eigene Vergänglichkeit hin - sei es nun auf der geistig-mentalen oder auf der körperlichen Ebene.
Jede/r, die oder der schon einmal mit einer Verletzung zu tun hatte, konnte erfahren, wie einschränkend sich selbst der kleinste Schnitt in den Finger anfühlt.
Bei der geistigen Degeneration finden sich auf einmal nicht mehr die richtigen Worte, Erinnerungen verfallen, die gewohnte Tagesstruktur geht verloren. Wenn so ein geistiger Verfall, wie bei einer Demenz-/ Alzheimererkrankung oder ein körperlicher Verfall z.B. bei Parkinson/ Multipler Sklerose eintritt, verlangsamt sich das Leben scheinbar - manche empfinden es wie eine Vollbremsung. Menschen, deren Erinnerungsvermögen schwindet, haben zunehmend Schwierigkeiten sich zeitlich und örtlich zu orientieren. Dies ruft große Verunsicherung hervor, es kommt zu unkontrollierten Handlungen, Aggressivität, zu einem nicht Erkennen vertrauter Personen, Dinge werden verlegt usw.
Was kann ich nun tun, wenn ich als Angehörige solch einer Situation gegenüber stehe? Für mich als Therapeutin und als Mensch gilt: Hole jemanden dort ab, wo er gerade steht. Wenn ich an meinen Demenz-Patienten aus einem Wohnprojekt für chronisch Kranke denke, so darf ich jeden Tag aufs Neue herausfinden, wo er gerade steht. Wie kann er heute gehen? Spielen die Füße mit oder braucht es Zeit, bis der eine Fuß sich sortiert hat und er den nächsten Schritt vorwärts tun kann? Ich passe meine Geschwindigkeit genau an.
Kommt dann irgendein Reiz von außen (z.B. durch eine andere Person), der meinen Patienten aus seinem Konzept bringt, bricht alles zusammen - und wir beginnen wieder von vorne. Ich nehme mich einen Schritt zurück, um ihm (hoffentlich) wieder auf seiner Ebene zu begegnen. Wenn es uns gelingt, wieder aufeinander einzuschwingen, können wir weitergehen. Wenn nicht, dann bleiben wir solange stehen, bis es wieder geht.
Was hat das nun mit Lebendigkeit zu tun?
Das Leben, wie auch die Natur, existiert in Schwingungen und Rhythmen. Wird dieser Rhythmus gestört oder diese Schwingung durchbrochen, braucht es Zeit, Ruhe und Geduld um wieder in den Fluss zu kommen. Wenn ein Organismus bereits eine Störung erfahren hat, z.B. durch einen Abbau oder Verfall, sind diese Schwingungen und Rhythmen viel verletzlicher, als wenn ich mich auf dem Höhepunkt meiner Lebensleiter befinde.
Immer wieder wird von uns verlangt, dass wir unser persönliches Tempo an die Anforderungen des Alltags anpassen. Aber was, wenn die Rhythmen des Alltags immer schneller laufen, wir immer weniger Zeit zum Atemholen haben? Degenerative Erkrankungen, wie Demenz, Alzheimer, Parkinson, Multiple Sklerose haben etwas damit zu tun, dass unser natürlicher Lebensrhythmus oftmals durchbrochen wird. Allesamt Krankheiten, die sich in den letzten Jahren häufen.
Irgendwann zwingt uns das Leben unweigerlich zum Anhalten und Atemholen. Auf die eine oder die andere Art.
Wie wäre es, wenn wir die Anforderungen und Ablenkungen des Alltags von uns aus zurückschrauben und uns mehr wirkliche Atempausen gönnen - hier und JETZT?
Bild zur Meldung: © Esther Ann auf Unsplash